Vorsitzende der DGST 2002 – 2012
Gotlinde Tanne Baronin von Keyserlingk , geboren 8. Mai 1932, ist am 8. Oktober dieses Jahres in ihrem Haus in Apfelstetten verstorben. Mit ihr geht eine ganze Epoche der Sandspieltherapie zu Ende, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Ländern des Ostens. Mit diesen Ländern war sie immer verbunden, seit sie 1945 als 12-jährige mit der Familie aus Schlesien vertrieben wurde, so wie ihre Eltern vorher aus der alten Heimat in Kurland, dem heutigen Lettland, vertrieben worden waren.
Kenngelernt habe ich sie vor vielen Jahren in der Deutschen Gesellschaft für Sandspieltherapie, die sie leitete. Sie war es, die mich ermutigte, mit einer großen Fallstudie in die Gesellschaft einzutreten. Immer mehr durfte ich aus der Nähe erleben, wie sie ihre Ausbildungsgruppen führte, wie sie die DGST leitete, wie sie die Zeitschrift für Sandspieltherapie gestaltete und herausgab, und wie sie auch in Lettland und Polen wirkte. Nach dem Kollaps der Sowjetunion hatte sie beschlossen, den Menschen in Lettland, wo ihre Familie viele Jahrhunderte gelebt hatte, etwas zu bringen, anstatt alte Besitztümer zu reklamieren. Sie gründete in Riga ein Zentrum für Familientherapie und Sandspieltherapie – mit Stolz sagte sie gern, dass in Lettland heute jeder wisse, was das Sandspiel ist!
Linde war eine große Persönlichkeit, und ein Mensch mit Charakter und einigen Kanten, wie es sich für einen großen Menschen gehört. Manchmal dachte ich, wie ungewöhnlich es war, dass ein Mensch von solchem Format sein Leben für eine solch kleine Sache einsetzte, wie es anscheinend das Spiel von Kindern im Sand ist. Und das in den letzten Jahren sogar in einem kleinen Dorf, in Apfelstetten fern der Welt und oben auf den Bergen! Beinahe bei den sieben Zwergen!
In Wirklichkeit ist es das Größte und Wunderbarste, was wir erleben können, wenn ein Kind im Spiel und in der liebevollen Begleitung einer so mütterlichen Erwachsenen, im „freien und beschützten Raum“ den Weg aus Angst und Not finden kann. Das Sandspiel, wie es die Schweizerin Dora Kalff entwickelte, ist ein wahrhaft alchemisches Gefäß für solche Wandlungen. Wichtig war für sie der intime, freie und beschützte Raum von Klient, Therapeut*in und Sandkasten. Wer es einmal so erlebt hat, am besten mit Linde, der ist vor dem Superlativ nicht geschützt: Es ist ein Wunder. Es kann so sein, wie wenn eine Blume aufgeht, oder die Morgensonne in der Seele eines Kindes.
Linde ist einen langen Weg gegangen. Sie hat Grafik studiert, Kunstgeschichte, Pädagogik, sie hat sechs Kinder geboren. Quasi nebenbei Journalismus studiert und lange für den Süd-West-Rundfunk gearbeitet. In San Francisco studierte sie Humanistische Psychologie und Familientherapie, und schließlich das therapeutische Sandspiel bei Dora Kalff und James Hillman. Sie lebte in Landkommunen und in großen Städten, sie reiste viel, in der Südsee sammelte sie Märchen, in Kanada studierte sie die Kultur der Eskimos, sie schrieb ungezählte gute und zeitlose Texte, Radiosendungen, Hörspiele, Theaterstücke und Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Von 2002 bis 2012 war sie die Vorsitzende der DGST. Die Sandspielzeitschrift übernahm sie 2002 und gab sie 10 Jahre lang heraus. Von übernationaler Bedeutung waren die Internationalen Sommerakademien im Sommer in Apfelstetten, die wir alle nicht vergessen werden. In der Zeitschrift veröffentlichte sie wunderbare Vignetten „Kleine Geschichten vom Sand“, und Interviews mit ganz besonderen Leuten: Marie Luise von Franz, Robert Bly, Kaspar Kiepenheuer. In der ISST (der Internationalen Gesellschaft für Sandspieltherapie) war sie geachtet auch wegen ihrer freien Meinung. Sie war eine überzeugte Europäerin und Pazifistin. Die deutsche Beteiligung am Waffenhandel quälte sie, und sie positionierte sich öffentlich dagegen.
All dies und viel mehr wäre zu nennen, und dabei vor allem ihr Ehemann Hartmut Kirste von Keyserlingk, der Linde in all den Jahren liebevoll und treu begleitet hat. Beide waren ein Paar, und sie werden es in unserer Erinnerung bleiben. Da ich später einige Aufgaben von Linde übernommen habe, weiß ich, welche Arbeit die Leitung einer Fachgesellschaft, die Herausgabe einer Zeitschrift und die Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen bedeuten. Ich bin da von grenzenloser Bewunderung für das Paar Linde und Hartmut. Alle Sandspieltherapeuten in Deutschland, Lettland und Polen schulden ihr großen Dank.
So also ist es, wenn einer über Linde spricht. Die Schönheit ihrer Texte, die Wärme ihrer Zuwendung, auch das wunderbare Layout der Zeitschrift (bei dem Hartmut ebenso gestaltend mitwirkte wie bei den Sommerakademien) – all das kann hier nur erwähnt werden.
Doch nun soll Linde selber sprechen. Sie hat uns einiges zu sagen, heute da sie nicht mehr am Leben ist:
„Die liebevoll eingehende, phantasievolle Beschäftigung mit den Themen der Trauer belastet uns nicht nur, sondern sie tut gut. Wir werden uns unserer Fähigkeit des Verstehens und Tröstens bewusst, und wenn wir unsere eigene Angst auch nie ganz verlieren, so verstehen wir sie doch bei uns und anderen besser. Oft arbeiten wir selbst unsere Kindheitserlebnisse dabei noch einmal auf. Wir erkennen die heilende Kraft unserer Phantasie und sind in der Lage, das Ende des Lebens mit seinem Anfang in Verbindung zu bringen. Die Beschäftigung mit dem Tod macht uns das Leben verständlicher.
Ich selber habe als Kind am Ende des zweiten Weltkriegs den „übergroßen Tod“ erlebt. Oft erkenne ich mich in den Kindern wieder, in ihrer Angst und Wut im Angesicht des Unbegreiflichen, ihrem seelischen Frieren, das nach Wärme und körperlicher Wärme verlangt, und ihren Sinnfragen, die zu beantworten sich alle Religionen seit Anbeginn der Menschheit bemühen. Ich habe erfahren, dass schöne Texte und Gebete, auch wenn man ihren Sinn nicht ganz versteht, eine tiefe Fähigkeit des Trostes in sich bergen. Und ich weiß, dass unseren guten und helfenden Gedanken keine Grenzen gesetzt sind“ (Sandspielzeitschrift 23, 2007).
Und dann zitiert Linde Goethe:
„Mich lässt der Gedanke an den Tod in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist, ganz unzerstörbarer Natur. Es ist ein Fortwirken von Ewigkeit zu Ewigkeit; es ist der Sonne ähnlich, die in unseren irdischen Augen wohl unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet“.
2008 schrieb sie in der Sandspielzeitschrift:
„Denn, so sagt es schon die Weisheit des Märchens: Ich weiß ein Mittel, das ist das Wasser des Lebens. Wer davon trinkt, wird wieder gesund. Es ist aber schwer zu finden. – Wenn wir bei diesem Finden helfen können, sind wir glücklich, denn dann erwächst wiederum Eros, die ´im ewigen Weltall wirkende Liebe´“.
Abschließen folgt ein Zitat aus Lindes Buch „Sie nannten sie Wolfskinder“, das 2008 bei Herder erschienen ist. Wolfskinder sind Waisenkinder, wie sie am Ende des Zweiten Weltkriegs durch Osteuropa und vor allem Polen irrten und sich durchschlagen mussten. Linde hat selbst später mit solchen Kindern gearbeitet. Am Ende ihrer langen Irrfahrt treiben die Kinder in einem Boot die Donau hinab. Sie schlafen, nur der Junge Ismael hält die Wacht.
„Wieder war es Nacht geworden. Mondlos. Wie ein großer schwarzer Topf stülpte sich die Dunkelheit über die weiten Wasser. Die Ufer waren weich gepolstert mit rundlichen Bäumen, in denen die Vögel schliefen. Der Strom schien sich zu teilen und in verschiedenen Richtungen im Grün zu verkriechen. Es war Ismael, als ob die Bäume das Wasser beisammenhielten, damit es nicht ganz zerfloss im unendlichen All. Das Wasser war ebenfalls schwarz, leicht gekräuselt, wie gerippte Seide. Am Himmel dagegen floss ein ewiger weißer Strom, wie Sternenmilch.
Und darüber stand in Sternenschrift ein großes M geschrieben.
Er konnte es lesen. „M“ wie „Mama“. Über die Sternenschrift dachte er lange nach und lange lauschte er den Geräuschen der Nacht.
Dann sah er den weißen Elch am Ufer stehen, der ihnen am Ostseestrand begegnet war. Sein Geweih leuchtet wie Gold. Der Elch schaute zu ihm herüber und scharrte mit dem Vorderhuf und Ismael hörte ganz deutlich, wie er rief: ´Ihr Elfen und Königskinder, ihr Prinzen und Prinzessinnen, kommt mit mir hinter die sieben Berge und sieben Meere ins neunmal neunte Königreich.´
Am anderen Morgen zogen Donaufischer den Kahn an Land. Sie verstummten vor Trauer und Entsetzen, einige weinten, denn die Kinder sahen aus wie tot.
Aber sie schliefen nur.
Auf der Suche nach einem Hinweis fanden die Fischer den Zettel in Ambromows Brustbeutel:
Da mir mein Sein so unbekannt
Leg ich es ganz in Gottes Hand.
Der führt mich wohl, so hin und her,
mich wundert´s, wenn ich traurig wär.“
***
Jörg Rasche, Rede am 10. 10. 2020 in Münsingen